100 Jahre Frauenwahlrecht

Veröffentlicht am 10.12.2018 in Veranstaltungen

100 Jahre Frauenwahlrecht – ein richtig guter Grund zum Feiern

Zu einer Festveranstaltung „100 Jahre Frauenwahlrecht“ lud die SPD-Landtagsfraktion in den Brandenburger Landtag nach Potsdam ein.

Neben der Landtagspräsidentin Britta Stark, die Frau mit dem höchsten Amt im Brandenburger Parlament, war Andrea Nahles, die erste Frau, die nach 150 Jahren SPD, gleichzeitig Partei- und Fraktionsvorsitzende der Bundes-SPD ist, als Hauptrednerin zu Gast.

Andrea Nahles schlug einen Bogen von der Erkämpfung des Frauenwahlrechts 1918 zur heutigen Situation der Frauen in Politik und Gesellschaft. Maßgeblich bei der parlamentarischen Durchsetzung des Frauenwahlrechts war die Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Marie Juchacz. Sie hielt die erste Rede als weibliche Abgeordnete, die in der Anrede auch Frauen nannte, im damaligen Reichstag. Nur sehr wenige Frauen gehörten diesem Parlament damals an.

Und heute?

Der Anteil von Frauen in den deutschen Parlamenten, auch dem Bundestag, liegt oft nur um die 30%. Deshalb diskutieren SPD-Politikerinnen wie auch die nationale Spitzenkandidatin zur Europawahl 2019, Katarina Barley, die Idee, bei der Aufstellung der Kandidatenlisten für Wahlen ein verbindliches Reißverschlusssystem zwischen Frauen und Männern einzuführen.

In Ostdeutschland soll die erst kürzlich gegründete Ostdeutsche Kommission, mit der Vorsitzenden Frauke Hildebrandt, Tochter der prominenten Regine Hildebrandt, tatkräftig auch an der politischen Stärkung der Frauen im Osten mitwirken.

Zur Veranstaltung im Landtag Potsdam waren 100 starke Frauen aus Brandenburg eingeladen. Aus Märkisch Oderland waren u.a. dabei die Bürgermeisterin und Kreistagsmitglied Margot Franke und Marianne Hitzges, SPD-Fraktionsvorsitzende aus Neuenhagen. Begrüßt wurden wir recht herzlich von der Landtagsabgeordneten Simona Koß.

Wer mehr zum Thema erfahren möchte, kann sich unter den eingefügten Links umsehen:

https://www.rbb-online.de/brandenburgaktuell/archiv/20181204_1930/nahles-potsdam.html

https://www.vorwaerts.de/content/vorwaerts-extra-revolution-191819

hier die Sonderausgabe vorwärts mit Namensartikel von Andrea auch hier

https://www.vorwaerts.de/artikel/spd-braucht-mehr-frauen-spitzenpositionen

 

 

Es gilt das gesprochene Wort!

Rede von Andrea Nahles

Fraktionsvorsitzende

„100 Jahre Frauenwahlrecht - 100 starke Frauen für Brandenburg“

4. Dezember 2018 im Landtag Brandenburg, Potsdam

Liebe Britta Stark (Landtagspräsidentin), sehr geehrte Damen (und Herren), liebe Genossinnen (und Genossen),

vielen Dank für die heutige Einladung zu einem Thema, dass mir persönlich sehr wichtig ist. Denn wir erinnern heute an die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Frauen vor 100 Jahren.

Am 19. Januar 1919 konnten die Frauen in unserem Land zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Und sich selber wählen lassen.

Über 80 Prozent der wahlberechtigten Frauen gaben ihre Stimme ab. Und von insgesamt 423 Abgeordneten schafften es 37 Frauen in die Nationalversammlung.

Ein erster, ein zaghafter, aber ein unheimlich wichtiger Schritt!

Eine von Ihnen war die Sozialdemokratin Marie Juchacz. Sie war auch die erste Frau, die in einem demokratisch gewählten Nationalparlament in Deutschland eine Rede hielt.

Zitat: „Meine Herren und Damen!“

Heute: Die selbstverständlichste aller Anreden.

Damals: Grund für „Heiterkeit im Plenum“, so sagt es das Plenar-Protokoll.

Dieser spontane Gefühlsausbruch zeigt uns: Die Begrüßung beider Geschlechter mag heute normal sein. Aber banal ist sie nicht!

Bei der Vorbereitung des heutigen Abends habe ich übrigens eine kleine Entdeckung gemacht:

Denn für welchen Wahlkreis zog Marie Juchacz ins Parlament ein?

Für den Wahlkreis Potsdam!

Ob sie tatsächlich auch in Potsdam gewohnt, geben die historischen Melderegister leider nicht her. Ihr Name ist jedenfalls bis heute allgegenwärtig in dieser Stadt.

Das gilt übrigens auch für die SPD. Unser Fraktionsvorstandssaal im Reichstagsgebäude ist aus gutem Grund nach ihr benannt.

Und nächstes Jahr im Februar – pünktlich zum 100. Jahrestag ihrer Rede – verleihen wir einmalig den Marie-Juchacz-Preis. Wir zeichnen damit Projekte aus, die die politische Beteiligung von Frauen voranbringen.

Meine Damen und Herren,

Ihr habt den 100. Jahrestag zur Einführung des Frauenwahlrechts ja bereits am 12. November mit einem Festakt hier im Landtag gefeiert. Im Deutschen Bundestag steht dieser Festakt noch bevor.

Bundestagspräsident Schäuble hatte ursprünglich geplant, dieses Ereignis im Paul-Löbe-Haus zu feiern. Also NEBEN dem Reichstagsgebäude.

Dem habe ich mich verweigert.

Das 100-jährge Jubiläum dieser – unserer! - historischen Errungenschaft feiern wir nicht neben, sondern in der Mitte des Deutschen Bundestags! Im Plenum! Im Zentrum unserer Demokratie! Da gehört sie hin!

Das bringt mich auf Marie Juchacz zurück.

Stellen wir uns die Situation einmal bildlich vor:

Sie tritt ans Rede-Pult.

Begrüßt zum ersten Mal in der deutschen Geschichte die „Herren und Damen“ im Hohen Haus.

Nimmt die „Heiterkeit“ der Kollegen Abgeordneten zur Kenntnis. Und lässt sich davon nicht beeindrucken.

Vier Minuten Redezeit stehen ihr zur Verfügung. Sie beginnt mit folgenden Worten:

„Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf.

Ich möchte hier feststellen, und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind.

Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist."

Zustimmung und Beifall aus den Reihen der SPD!

Historische Worte. Richtige Worte. Damals wie heute.

Gleichstellung ist eine Selbstverständlichkeit.

Gleichstellung muss sich nicht rechtfertigen.

Gleichstellung ist nichts, wofür sich die Frauen bedanken müssen.

Gleichstellung ist ein Menschenrecht. Und wer Frauen die gleichen Rechte und Chancen abspricht, der spricht ihnen damit ein Stück weit das Menschsein ab.

Das muss jedem klar sein, der den Sprüchen der Rechten auf den Leim geht. Und ihre Parolen über „Gender-Wahn“ und „Gleichmachung“ aufnimmt.

Ich bin froh, dass wir heute in anderen Zeiten leben. Unsere Welt und Gesellschaft sind besser geworden. Wir sehen Licht am Ende des Tunnels.

Nicht, weil das eine zwangsläufige oder selbstverständliche historische Entwicklung ist.

Sondern weil wir dafür gekämpft haben.

Auf der Straße und im Parlament. Gemeinsam mit, und nicht gegen die Männer.

Wir müssen uns gegen die Illusion der Selbstverständlichkeit wehren!

Was wir erreicht haben, ist uns nicht in den Schoß gefallen. Es hätte auch anders laufen können.

Wie weit wir sind, wie selbstverständlich die Gleichstellung für Frauen - und übrigens auch für die Männer - geworden ist, dafür müssen wir nur mal in die Vergangenheit schauen:

Bis 1958 galt im BGB: Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Eheleuten, entscheidet die Meinung des Gatten. Das ist heute nicht mehr so!

Bis 1970 waren nicht-eheliche Kinder und ihr Mütter rechtlich schlechter gestellt. Das haben wir überwunden!

Bis 1977 durfte die Ehefrau nur dann einen Beruf annehmen, wenn der Ehemann seine Erlaubnis erteilt. Das haben wir abgeschafft!

Und erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Unglaubliche 25 Jahre, nachdem die SPD einen ersten Anlauf 1972 unternommen hatte; und der danach immer wieder mit denselben Begründungen abgewiesen wurde:

  • Vergewaltigung in der Ehe gibt es nicht.
  • Der Staatsanwalt hat unterm Ehebett nichts zu suchen.
  • Und wie will man das überhaupt Beweisen, wenn Wort gegen Wort steht.

Letzteres erinnert mich übrigens stark an die Debatte um #MeToo und zeigt, dass wir auch heute noch gegen Angriffe auf die Selbstbestimmung der Frau kämpfen.

1997 fand sich glücklicherweise eine Mehrheit für die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe. Bei insgesamt 137 Gegenstimmen aus CDU, CSU und FDP.

Gegenstimmen unter anderem von Horst Seehofer, Volker Kauder und einem gewissen Friedrich Merz.

Das war kein Ruhmesblatt für die genannten Herren. Ich hoffe sehr, dass sie das heute ebenso sehen.

Meine Damen und Herren,

solange Frauen nicht die gleichen Chancen und Möglichkeiten wie Männer genießen, solange leben wir nicht in einer gerechten Gesellschaft.

Ja, wir leben inzwischen in einer anderen Welt. Aber ja, wir sind noch lange nicht am Ziel.

Das sieht man übrigens auch ganz gut am Bundestag:

Auch nach 100 Jahre sind wir Frauen dort noch immer unterrepräsentiert. Tendenz: Negativ.

Der Grund dafür: Die Fraktion der AfD. Wenn ich zu denen rüber schaue, dann sehe ich da fast nur Männer in grauen Anzügen.

Es geht aber nicht nur um den Bundestag:                                          

  • In Deutschland haben wir 14 Länderchefs, aber nur zwei Ministerpräsidentinnen.
  • In den kommunalen Vertretungen sitzen zu 75 Prozent Männer und nur 25 Prozent Frauen.
  • Neun von zehn Oberbürgermeistern sind männlich, nur 10 Prozent weiblich.

Ich finde es deswegen richtig, dass Katarina Barley vor kurzem eine Änderung des Wahlrechts vorgeschlagen hat.

Und ich freue mich, dass wir in der Frage auf die SPD in Brandenburg setzen können. Euer Parteitag hat die Brandenburger SPD-Landtagsfraktion nämlich aufgefordert,

„sich für verpflichtende gesetzliche Regelungen einzusetzen, die Frauen und Männern gleiche Chancen auf Wahllisten und bei Kreiswahlvorschlägen ermöglichen.“

Wir brauchen die Parität bei der Listenaufstellung und eine echte Wahlrechtsreform.

Schön, dass sich die sonst eher zurückhaltende Kanzlerin ebenfalls für Parität „in allen gesellschaftlichen Bereichen“ ausgesprochen hat.

Schade, dass sie das erst jetzt so deutlich sagt - nach 18 Jahren CDU-Vorsitz und 13 Jahren Kanzlerschaft.

Trotzdem nehmen wir sie jetzt beim Wort - und jeden, der ihr im CDU-Vorsitz folgt. Denn von frommen Worten allein können sich die Frauen in unserem Land nichts kaufen.

Ich will, dass es dem Thema wirklich vorangeht. Das ist keine leere Versprechung. Dem fühle ich mich als erste Vorsitzende der SPD verpflichtet.

Meine Damen und Herren,

viele Männer überrascht es, wenn ich das sage: Uns Frauen wird in Beruf und Politik nichts geschenkt. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.

Was ich dabei mitgenommen habe, ist:

Frauen, vernetzt euch! Helft euch! Lasst euch nicht unterkriegen!

Mehr Frauen in Spitzenpositionen tun der SPD gut. Tun der Politik gut. Und tun übrigens auch der Wirtschaft gut!

Nicht, weil wir Frauen die besseren Menschen sind. Sondern weil wir eine eigene, eine wertvolle und eine andere Perspektive auf die Dinge haben als die Männer! Frauen bereichern die Diskussion und die Entscheidungsfindung. Darum geht es!

Deswegen mache ich mich für Frauen stark:

  • Zum Beispiel beim Mindestlohn, den ich als Arbeitsministerin durchgesetzt habe. Der hilft vor allem Frauen!
  • Zum Beispiel beim Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit, das wir kürzlich verabschiedet haben. Es sind ja vor allem Frauen, die in der sogenannten „Teilzeitfalle“ gefangen waren. Sprich: Nach der Geburt eines Kindes die Arbeitszeit reduziert haben, aber später nicht mehr auf eine Vollzeit-Stelle zurück konnten.
  • Oder denken wir mal an die Elternzeit, die wir in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein zentrales Anliegen der SPD. Davon profitieren vor allem Frauen. Aber eben nicht nur:

Immer mehr Männer sind ebenfalls bereit, sich eine Auszeit für die Kindererziehung zu nehmen. Die wären früher von ihrem Chef schief angeguckt worden. Heute ist das normaler geworden.

Und auch in anderen Politikfeldern haben wir viel erreicht:

  • Wir haben das Familienrecht modernisiert,
  • die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert,
  • eine Frauen-Quote für Aufsichtsräten durchgesetzt,
  • und mit dem Grundsatz „Nein heißt Nein“ das Sexualstrafrecht auf den Stand der Zeit gebracht.

Damit sind uns wichtige Schritte nach vorne gelungen, von denen Millionen von Frauen, aber auch unsere Gesellschaft als Ganzes profitieren!

Jetzt nehmen wir die nächsten Herausforderungen in den Blick:

  • Zum Beispiel den gleichen Lohn: Weil eine Einzelhandelskauffrau im Durchschnitt 25 Prozent weniger verdient als ihr männlicher Kollege.
  • Zum Beispiel die Altersvorsorge: Weil Frauen in Deutschland nur halb so viel Rente bekommen wie Männer.
  • Und zum Beispiel die beruflichen Chancen: Weil Frauen im Jahr 2018 immer noch an eine gläserne Decke stoßen.

Dass es die gläserne Decke gibt, beweist nicht nur die Arbeitsstatistik, sondern auch die Namen Thomas und Michael.

Wenn man sich nämlich die Vorstände der 130 größten deutschen börsennotierten Unternehmen anschaut, dann sieht man: Thomas und Michael sind die beiden häufigsten Vornamen.

Von denen gibt es insgesamt 56.

Dem gegenüber stehen insgesamt 52 weibliche Vorstandsmitglieder in denselben 130 Unternehmen.

Es gibt also mehr Thomasse und Michaels als Frauen in deutschen Vorständen!

Ich bin gespannt, wie mir das jemand mit angeblicher „besserer Qualifikation“ erklären will.

Liebe Mistreiterinnen (und Mitstreiter),

dieser Tage erleben wir leider wieder, dass die Chancengerechtigkeit von Frauen und Männern infrage gestellt werden. Dafür muss man sich nur anhören, wie sich viele Rechte nach den guten alten Rollenbildern zurücksehnen. Übrigens nicht nur Männer, sondern auch Frauen!

Hier bewahrheitet sich eine alte Weisheit: Nichts ist für immer errungen.

In Zeiten, in denen die Gleichheit aller Menschen nicht mehr grundsätzlich akzeptiert wird, schwindet auch immer der Respekt vor der Gleichstellung der Frau.

Deswegen ist es wichtig, dass die SPD als starke Stimme der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in den Parlamenten sitzt. Wer einen gleichstellungs-politischen Roll-Back versuchen will, der muss erst einmal an uns vorbei.

Das Gute ist: Unsere Ausgangssituation ist heute viel besser als noch vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Die Gleichheit von Frauen und Männern ist glücklicherweise tief verankert in den Köpfen und Herzen der jungen Generation.

Lassen Sie mich deswegen mit einer schönen kleinen Anekdote schließen:

Im ARD-Morgenmagazin erzählte kürzlich eine Moderatorin von ihrer kleinen Tochter, die wohl irgendwo vom Rückzug Angela Merkels vom CDU-Vorsitz gehört hatte. Jetzt wollte die Tochter von der Mutter wissen:

„Mama, können Männer eigentlich auch Bundeskanzlerin werden?“

Meine Damen und Herren,

ich glaube: Wegen dieser Frage wäre Marie Juchacz heute sehr stolz auf uns gewesen!
 

Danke!